Vorwindkurs, Windwinkel 50 Grad, 8 KN Windgeschwindigkeit, 6 KN Fahrt, 22 Grad Lufttemperatur und Sonnenschein ist wie Skifahren bei Minus 5 Grad Außentemperatur, Neuschnee, mittelschwere, leere Piste und strahlend blauem Himmel. Wer weder segelt noch Ski fährt, kann jetzt nicht mitfühlen, könnte aber auf die Idee kommen, das Eine oder Andere zu versuchen.
Wenn ich unter oben genannten Bedingungen auf Deck sitze, mir der Wind um die Nase weht, kann ich meine Gedanken fliegen lassen. Heute kam mir das aktuelle Thema des Sterbens unserer großen Kaufhäuser in den Sinn. Ich schätze mich glücklich, die Hochphase dieser Konsumgütertempel miterlebt haben zu dürfen. Nicht unbedingt die großen Kaufhausketten, sondern Kaufhäuser aus privater Hand sind in meiner Erinnerung präsent. In der Innenstadt von Bochum stand das mächtige, in klassischem Stil erbaute Kaufhaus "Kortum". Im Inneren ermöglichte eine imposante Holztreppe das Erreichen des nächsten Stockwerks. Zusätzlich gab es den Fahrstuhl. Der potentielle Kunde durfte keine Knöpfe und Hebel eigenständig betätigen, um diesen in Gang zu bringen. Ein fest angestellter Herr in Uniform mit Kappe, war für seine Bedienung zuständig. Zusätzlich gab er bekannt, wann sich die Tür schließt, welches Stockwerk das nächste Ziel ist und was dort zu erwerben wäre. Zum Beispiel: "Zweiter Stock, Damenoberbekleidung, Kurzwaren, Handarbeit." Ding Dong ertönte. "Tür öffnet. Bitte aussteigen."
Ein rechteckiges Atrium befand sich in der Mitte des Gebäudes, um das sich die Verkaufsflächen wanden. Von der Brüstung aus konnte man in die Tiefe blicken oder hinauf in die kunstvoll gestaltete Dachkuppel. In der obersten Etage war die Lebensmittelabteilung, sowie eine Imbisstheke. Ich erinnere mich an Bockwurst oder Gulaschsuppe mit Brötchen, die man an Stehtischen verspeiste. Alles in Resopal, praktisch, hygienisch, zeitgemäß. Die Damen hinter der Theke in weißen Kitteln und Hauben praktisch, hygienisch, zeitgemäß. Mir hat es geschmeckt und gefallen, obwohl ich als Kind Mühe bei der Nahrungsaufnahme hatte. Das Kinn reichte geradeso über die Resopalplatte.
Hatte Frau, trotz größter Achtsamkeit, eine Laufmasche in ihren Seidenstrümpfen, machte sie sich zu Anfang ihrer Einkäufe auf den Weg zur Abteilung für Socken und Strümpfe. Aufgereiht an einem langen Tisch saßen dort die Kunststopferinnen, adrett, in ihren Arbeitskitteln. Sie nahmen die verloren gegangenen Maschen wieder auf. Die kostbare Beinbekleidung war, nach Erledigung aller anderen Einkäufe repariert. Dies selbstverständlich günstiger als ein Neukauf.
In der Kinderbekleidungsabteilung stand die heißgeliebte Bimbobox. Bekleidete Äffchen mit Instrumenten musizierten im Dschungel, nach einem Münzeinwurf, munter drauf los. Interpretationen sind erlaubt. Hätte man anstatt der Äffchen Eisbären auf einer Eisscholle dargestellt, wäre dies wohl weniger peinlich. Wir Kinder hätten bestimmt genauso viel Spaß gehabt.
Heute hat ein großer Elektronik- und Elektrofachmarkt das Gebäude in Beschlag genommen. Von aller inneren Pracht ist nichts mehr übrig. Da wird mir schon ein bisschen Weh um Herz.
Nun ist erst einmal Schluss mit fliegenden Gedanken. Die nördlichste griechische Insel Othonoi ist in Sicht. Auch die kennen wir schon, wollten aber gerne hier, in der ruhigen Bucht mit glasklarem Wasser, die Ankunft bei den Hellenen feiern. Am Abend nahmen wir Platz bei unserem Lieblingswirt, der uns gleich zu Anfang traurig mitteilte: "An meine ersten Gäste kann ich mich nicht erinnern, meine letzten merke ich mir jetzt. Das seid ihr."
Ob jetzt in seiner Küche und seinem Gastraum ein Elektrohändler Fuß fassen wird?
PS: Bei vier Restaurants auf einem kleinen Inselchen ist das wohl eine wirtschaftliche Selektion. Anstatt des Restaurants will er einen kleinen Supermarkt eröffnen. Das wäre dann schon der Zweite im Örtchen. Viel Glück!
D-61476 Kronberg