Jetzt ist die Zeit gekommen, wo die Kraft der Sonne einen langen Anlauf braucht, um Luft und Land auf behagliche Temperaturen zu puschen. Der Himmel ist nach wie vor ungetrübt blau. Der Meltemi sorgt für frischen Wind. Ich habe die Steppdecken in die Bettbezüge gesteckt, weil das Laken mit der Wolldecke nicht mehr ausreicht, für eine wohlige Schlummerwärme.
Eigentlich wollten wir unsere Reise Richtung Süden, sprich Kos, unseren Winterliegehafen, schon vor drei Wochen beginnen. Windige Vorhersagen ließen uns entgegen der geplanten Route von den nördlichen Sporaden zurück, in den Golf von Volos, aufbrechen. Der Golf von Volos war in meinem Kopf als hässlich, schmutzig und nicht beachtenswert abgespeichert. Warum? Das könnte ich nur tiefenpsychologisch herausfinden. Was wir tatsächlich vorfanden waren ruhige verschlafene Buchten und Ortschaften, herrliches Badewasser, mäßige Winde, bezaubernde Kulissen.
Unsere Ankerwinsch funktionierte schon seit einiger Zeit nicht mehr so flott. Manchmal hatten wir die Befürchtung, dass sie kräftemäßig am Ende ist. Wolle hatte in Punkto Reparatur bereits sein Bestes gegeben. Somit konnten wir zumindest ausschließen, woran es nicht liegt. Der Hafen von Volos war jetzt in greifbarer Nähe. Die Segler-App Navily ist in solchen Momenten Gold wert. Bootsfahrende schreiben hier in Form von Text oder auch Bild, was sie wo vorgefunden haben, geben Tipps, Informationen und Erfahrungen weiter. Welche Tavernen-Betreiber in ihren Augen unfreundlich waren und wo ihnen das Essen oder die Preise ganz und gar nicht zugesagt haben, interessiert mich wenig. In unserem Fall fand ich die Weitergabe der Telefonnummer von Christos ungemein hilfreich. So bekamen wir von heute auf morgen einen Liegeplatz, eine fachkundige Analyse unseres Problems sowie eine prompte Reparatur. Jetzt schnurrt sie in Hochgeschwindigkeit anstatt in slow motion, unsere Ankerkette. Die Stadt Volos ist keine Augenweide, gab uns aber die Möglichkeit all das neu zu beschaffen, was wir mal wieder benötigten. Ich als Ruhrgebietskind bin sowieso nicht an Pracht und Prunk gewöhnt. Städte muss man mit dem Herzen spüren. Fakt ist, unsere Weingläser haben endlich eine einheitliche Optik, Wolle eine neue Hose. Meine ausgeleierte Unterwäsche konnte ich durch nettere ersetzen. Ganz besonders beeindruckend war der Besuch der Klöster von Meteora, welche von Volos aus, mit dem Leihwagen, recht gut zu erreichen sind. Fazit: Alles ist hier super. Wir taumeln von einer Ecke (Bucht) in die andere - Entspannung pur. Übrigens: Die Gegend ist bei Deutschen sehr beliebt, die vom Wetter oder aus anderen Gründen vergrault, das letzte Drittel ihre Lebens lieber hier verbringen. Ich kann das schon verstehen.
Dann nahmen wir Abschied. Eine flotte, aber anstrengende, 18 Stunden Fahrt brachte uns auf die Insel Lesbos. Manche denken an den ehemaligen, griechischen Nachbarn, der von dort kam, anderen ist das Flüchtlingsthema präsent. In der paradiesischen Ankerbucht der Miniinsel Asproniso entdeckten wir bei unserem Landgang zerstörte Schlauchboote, zurückgelassene Rettungswesten und Kleidungsstücke. So etwas berührt mich sehr. Kurz zuvor standen hier Menschen, vielleicht entkräftet, schmutzig, voller Angst und Ungewissheit, Gräueltaten und Aggressionen im Kopf, eingefräst in ihren Seelen. Die gierige Hoffnung brodelt im Geist, es endlich geschafft zu haben. Für einen Moment stelle ich sie neben mir am Strand vor, die Frauen, Männer und Kinder. Wir sind in vielerlei Hinsicht meilenweit von einander entfernt. Und doch gibt es eine Schnittstelle: Die kleine griechische Insel. Ich nenne es hier das Paradies? Irgendetwas stimmt da nicht.
Es ist reine Glückssache auf welchem Fleck der Erde man seinen ersten Atemzug getan hat. Danach treibt man mit diesem Reflex durch das Leben. Für den einen schmeckt es hauptsächlich bitter, für den anderen meist süß. Sauer, salzig, umami sorgen am Ende hoffentlich für eine befriedigende Ausgewogenheit bei jedem von uns.
Ich wünschte, ich könnte daran glauben.
D-61476 Kronberg